5. November 2013

Wer bin ich?

Diese existenzielle Frage stellt sich wohl jeder Mensch mindestens einmal im Leben.

Viele Antworten auf diese Fragen sind Rollenzuschreibungen, die sich im Laufe des Lebens ändern können:
  • Ich bin ein Kind.
  • Ich bin eine alte Frau / ein alter Mann.
  • Ich bin Lehrer / Installateurin / Meister / Geschäftsführerin / ...
  • Ich bin Mutter / Vater / kinderlos.
  • Ich bin heterosexuell / bisexuell / homosexuell.
  • Ich bin Christin / Moslem / Atheistin / Hindu / ...
  • Ich bin Vegetarier / Fleischesserin / vegan essend / ...
  • Ich bin Single / verheiratet / geschieden / verwitwet / …

Auf manche dieser Rollen sind wir stolz und identifizieren uns gerne damit. Manche sind uns eher peinlich. Manche dieser Rollen verlassen uns ein Leben lang nicht mehr, wenn wir einmal in sie hineingewachsen sind. Manche Rollen werden sehr plötzlich beendet. 

© Uli Feichtinger, 2011
In der Job-Rolle sind wir heute in weiten Bereichen mit enormem Arbeitseinsatz konfrontiert. Die Anforderungen sind hoch, das Tempo ist berauschend schnell, die Qualität soll auch stimmen. "Wer bin ich denn eigentlich noch, außer Roboter im Job?" fragen sich die Betroffenen. Freizeit besteht dann oft rein aus Regenerationszeit für den Job, doch die persönliche Entfaltung und Freiheit wird vernachlässigt. Die Frage, die sich stellt: "Wo bleibe ich?"

Menschen, die sich stark mit der (Führungs)Rolle in ihrem Beruf identifiziert haben, haben nach der Pensionierung oder im Krankheitsfall das Gefühl, dass sie "niemand" mehr sind. "Wer bin ich denn noch, wenn ich nicht mehr ... bin?" Die Berufstätigkeit hat Sinn gegeben, nun wird nur die Abwesenheit von Sinn erlebt: "Bin ich überhaupt noch wer?"

Aber auch Menschen, die vollkommen in der Rolle der Betreuung anderer Menschen aufgehen, stellen sich irgendwann die Frage: "Wer bin denn eigentlich ich?" Wenn lange Zeit nur die Bedürfnisse der zu betreuenden Menschen im Vordergrund stehen (egal welches Alter diese zu betreuenden Menschen haben), ist es leicht den Bezug zu sich selbst zu verlieren. "Ja, was will denn ich eigentlich?"

Für mich ist in diesen Beispielen und darüber hinaus so spannend zu bemerken: Dies sind alles Rollen und Identifikationen. Das ICH "dahinter" ist viel größer als jede Rollenzuschreibung. 

Ja, ich bin dreifache Mutter, und ich bin viel mehr als das. 
Ja, ich bin Unternehmerin, und ich bin viel mehr als das.
Ja, ich bin Coach & Trainerin, und ich bin viel mehr als das.
Ja, ich bin Frau, und ich bin viel mehr als das.
Ja, ich bin Freundin, und ich bin viel mehr als das.

Mit jeder Rollenzuschreibung, mit jeder Identifikation beschränken wir uns selbst, fokussieren wir uns auf einen Teilaspekt von uns. Das kann in manchen Situationen extrem hilfreich sein, in anderen Situationen kann es einschränkend und deprimierend sein.

Ich lade dich ein, die dunkle Zeit des Jahres dieser Frage zu widmen: Wer bin ich?

Du kannst damit beginnen, alle Rollen zu notieren, mit denen du dich identifizierst oder identifiziert hast.

Du kannst beobachten, welche Sätze mit "Ich bin..." du aussprichst und denkst, beispielsweise 
  • Ich bin traurig.
  • Ich bin wütend.
  • Ich bin fröhlich.
  • Ich bin überrascht.

In der Meditation oder in einer ruhigen Minute kannst du nachspüren: 
  • Wer ist dieses Ich "hinter" den Rollen und Identifikationen? 
  • Wer ist dieses Ich, das traurig / wütend / fröhlich / überrascht / ... ist? 
  • Wer ist dieses Ich, das in diesen Rollen lebt?
  • Wer ist dieses Ich, das in diesen Gefühlen lebt? 
  • Wer denkt diese Gedanken? 
  • Wer nimmt diese Gefühle wahr?

© Uli Feichtinger, 2012
Es kann sehr leicht sein, dass du keine Antwort findest, die sich in Worte fassen lässt. Dieses Ich hinter den Rollen und Identifikationen und Gefühlen und Gedanken, das ist kaum zu beschreiben, und dennoch kann es jeder Mensch für sich selbst erfahren. 

Daher: Diese Einladung zu lesen und kognitiv durchzugehen, das ist eine Sache. In diese offene Fragestellung einzutauchen, die Erfahrung selbst zu machen, das ist eine andere Sache.

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